Bystrytsky Yevhen. Project Syndicate, 2014.

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Yevhen Bystrytsky

Ist die Ukraine noch zu retten?


FEB 21, 2014 http://www.project-syndicate.org/commentary/yevhen-bystrytsky-calls-for-a-technocratic-government-and-a-thorough-investigation-of-state-violence?version=german



KIEW – In weiten Teilen der Innenstadt von Kiew, wo die staatlichen Repressionen die Hoffnung auf eine Beilegung der politischen Krise in der Ukraine dämpfen, ist die Luft geschwängert von beißendem schwarzen Rauch, der in den Augen brennt. Angesichts des nur Stunden nach seiner Verkündung gebrochenen Waffenstillstandes zwischen Regierung und Opposition und der Dutzenden von Toten der letzten Tage scheint jede Hoffnung auf ein Ende der sich vertiefenden zivilen Unruhen im Lande zu schwinden.

Zwar wurde durch Vermittlung der EU-Außenminister eine vorsichtige Verständigung herbeigeführt, die vorzeitige Neuwahlen verspricht. Derartige Abmachungen wurden schon früher vorgeschlagen. Doch ist es unwahrscheinlich, dass irgendeine Einigung, die nicht den sofortigen Rücktritt von Präsident Viktor Janukowitsch beinhaltet, auf breite Zustimmung stößt.

Tatsächlich scheint Janukowitschs Regierung bereit, alles zu tun, um an der Macht zu bleiben. Ähnlich wie in Russland unter Präsident Wladimir Putin überzieht die Steuerpolizei zivilgesellschaftliche Organisationen mit Prozessen, um sie zum Schweigen zu bringen und ihnen die Relevanz zu nehmen. Doch trotz dieser Einschüchterungsversuche demonstrieren seit drei Monaten Ukrainer aus allen Schichten der Bevölkerung in Städten überall im Land.

Im Kern ist dies ein Kampf zwischen dem europaorientierten Westen und dem russlandfixierten Osten der Ukraine um die geopolitische Seele des Landes. Wird sich die Ukraine der Europäischen Union annähern oder stattdessen der russisch dominierten Eurasischen Union beitreten?

Trotz der zunehmenden Gewalt steht die Ukraine nicht am Rande eines Bürgerkrieges – oder zumindest noch nicht. Doch Vorsicht! Die Gefahr der Zersplitterung des Landes – und seines Militärs – ist sehr real. Janukowitschs Entscheidung, Generalstabschef Volodymyr Zamana zu entlassen, belegt dies. Der Konflikt muss jetzt gestoppt werden.

Um dies zu erreichen, braucht die Ukraine eine Übergangsregierung aus Experten und eine neue Verfassung, die das bis vor einem Jahrzehnt bestehende Regierungssystem des Landes wieder herstellt, in dem Parlament und Präsident sich die Macht teilen. Auch sollten innerhalb von drei Monaten Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, und bald darauf Parlamentswahlen.

Aber Janukowitsch hat bereits gezeigt, dass er an einer Verhandlungslösung nicht interessiert ist. Bis zur jüngsten Welle der Gewalt schien es, als ob sich die Spannungen vielleicht über einen Dialog würden abbauen lassen. Eine Amnestie für inhaftierte Demonstranten wurde angeboten, und die Protestierenden erklärten sich bereit, sich aus von ihnen besetzten Regierungsgebäuden zurückzuziehen. Doch als die Demonstranten ihr Versprechen erfüllt und die Gebäude geräumt hatten, verlegte sich Janukowitsch auf Gewalt, um ein Ende der Proteste insgesamt herbeizuführen.

Die Polizei begann, Gruppen von Demonstranten unter Beschuss zu nehmen, und hat laut Berichten mindestens 70 getötet und hunderte weitere verletzt. Die Krankenhäuser quellen über von Verletzten, und viele meiden aus Angst vor Verhaftung oder Schlimmerem die staatlichen Kliniken. Der Physiker und Aktivist Yuri Verbitsky wurde Ende Januar von fünf Männern aus einem Krankenhaus in Kiew entführt, in dem er sich wegen Verletzungen durch eine Blendgranate, die er sich bei einer Demonstration zugezogen hatte, behandeln ließ. Verbitskys übel zugerichtete Leiche wurde am nächsten Tag in einem Wald außerhalb der Stadt gefunden.

Jede Aussicht auf eine Beilegung der Krise hängt letztlich daran, ob es gelingt, das Vertrauen der Bürger in Polizei und Sicherheitskräfte zurückzugewinnen, die heute von vielen als eine Besatzungsmacht angesehen werden. Will man das Vertrauen der Öffentlichkeit wieder herstellen, kann es keine Straflosigkeit für jene geben, die Schüsse abfeuerten oder den Befehl dazu gaben. Die exzessive Gewalt durch Regierungsvertreter und der Einsatz halbkrimineller Schlägertrupps (sogenannter titushki) gegen Demonstranten müssen gründlich untersucht werden.

Doch obwohl die anhaltende Gewalt eine derartige Untersuchung nur noch drängender macht, weigern sich Staatsanwaltschaften und Gerichte der Ukraine, zu handeln. Daher ist es unverzichtbar, dass eine hochrangige internationale Mission – die führende Mitglieder der Zivilgesellschaft, den Europarat und die Europäische Union einbindet – eine umfassende Untersuchung einleitet und die Regierung der Ukraine unter Druck setzt, dabei zu kooperieren.

EU und USA haben seit der jüngsten Welle mörderischer Gewalt diplomatische Sanktionen eingeleitet. Diese sollten ein Reiseverbot nicht nur für alle staatlichen Funktionsträger, die das gewaltsame Vorgehen befohlen, beaufsichtigt oder umgesetzt haben, sondern auch für Janukowitschs politische Steigbügelhalter umfassen: jene Oligarchen, die sich jetzt im Hintergrund halten und gleichzeitig hohe Summen außer Landes schaffen.

Die Sanktionen sollten erst dann aufgehoben werden, wenn eine glaubwürdige Untersuchung der Gewalt der letzten drei Monate gestattet wird und eine technokratische Regierung die Arbeit aufgenommen hat (von welchem Punkt an die EU und ihre Mitgliedsstaaten konkrete wirtschaftliche Unterstützung anbieten sollten). Ministerpräsident Mykola Azarov ist im letzten Monat zurückgetreten, vorgeblich, um den Weg für eine solche Lösung frei zu machen. Aber Janukowitsch weigert sich, den nächsten Schritt zu tun oder sich zu Verfassungsreformen zu verpflichten, was die wachsende Frustration der Demonstranten großenteils erklärt – und auch ihre Entschlossenheit, angesichts brutaler Repressionen weiter vorwärts zu drängen.

Es gibt im Westen eine Vorstellung, dass alle politischen Kräfte in der Ukraine schwach, uneinig und korrupt seien. Und es gibt wachsende Sorgen – häufig angeheizt von der sensationsheischenden Berichterstattung in den Medien –, dass innerhalb des Oppositionslagers rechtsextreme Kräfte die Oberhand gewönnen. Doch obwohl es derartige Kräfte gibt, setzt sich die große Mehrheit der Demonstranten auf den Maidans überall im Lande aus ganz normalen Bürgern zusammen, die empört über den Machtmissbrauch, die staatliche Gewalt, die Straflosigkeit von Staatsvertretern bei Fehlverhalten und die Korruption sind.

Die wahre Gefahr für die korrupten, verderbten Eliten, die in der Ukraine die Kontrolle übernommen haben, geht nicht von den Provokationen radikaler Randgruppen aus, sondern der Beharrlichkeit dieser Demonstranten. Ich weigere mich, zu glauben, dass der Marsch der Ukraine in Richtung Bürgerkrieg unaufhaltsam ist – aber ich weiß auch, dass sich unsere Bürger nie wieder zum Schweigen bringen lassen werden.


Aus dem Englischen von Jan Doolan


Yevhen Bystrytsky is Executive Director of the International Renaissance Foundation.








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